IV. Bis vor die Tore Roms
Ein gewaltiges Tal öffnet sich vor uns. Der Boden ist staubig-braun. Darüber spannt sich ein strahlendblauer Himmel. Aus der Mitte des Tals ragt ein Felsplateau hervor, auf dem eine in Jahrhunderten errichtete Siedlung hoch über dem Land thront. Ein spektakulärer Anblick.
Auf unserer Reise haben wir die Civita di Bagnoregio erreicht. Das Dorf kommt einer Festung gleich. Welche Schrecken mag die Bewohner*innen einst auf diesen Felsen getrieben haben? Eine filigrane, moderne Fußgängerbrücke ist der einzige Weg hinauf.
Die Civita ist hübsch herausgeputzt mit ihrer Handvoll Häuschen. Fast wähnt man sich in einem Themenpark, so adrett und nett ist es hier. Am Dorfplatz machen wir Rast und ich bestelle Foccacia mit Porchetta und Weißwein. Heute lass ich mich fahren.

Das nächste Ziel empfahl eine Freundin spontan: Den Sacro Bosco. Der Prinz von Orsini ließ sich hier vor 500 Jahren dieses Wäldchen anlegen. Bunt verstreut an den Wegen und auf den Lichtungen erheben sich groteske Skulpturen von mythischen Helden und furchterregenden Monstern. Ein Märchenwald, bezaubernd, erschreckend, unerwartet.
Die Autostrada führt uns weiter gen Süden, bis vor die Tore Roms, nach Tivoli. Auf Gut Glück haben wir dort eine Pension gebucht. Diese entpuppt sich als mittelalterliches Herrenhaus mit enger Wendeltreppe und spitzzulaufenden gothischen Fenstern. Wir sind entzückt, anders kann man das nicht sagen.
Im Garten eines nahen Lokals essen wir zu Abend. Für gerade Mal 30 Euro gibt es Antipasti, Primo, Secondo, Dolci, Wasser, Wein und Café. Wir lassen es uns auf dieser Reise sehr gut gehen. Nach all den Monaten zuvor (und die dann noch kommen sollen) bin ich dafür so dankbar…
V. Römische Kaiser und opulente Wasserspiele
Es ist noch recht zeitig am nächsten Morgen als wir über das riesige Gelände der Villa Adriano streifen – den Ruinen des Sommerpalastes des römischen Kaisers Hadrian. Die 1.900 Jahre alten Bauten sind gewaltig und lassen heute noch die einstige Größe erahnen. Säulengänge, Bäder, Teiche. Rom baute für die Ewigkeit.
Leider ist nur ein Bruchteil der Anlage zu besichtigen. Die meisten Wege sind abgesperrt. Ob nun wegen Restaurierungsarbeiten oder wegen Covid ist uns nicht klar.


Das Auto bringt uns ins höher gelegene Tivoli selbst. Der Ort ist wuselig und an sich weniger eine Schönheit als erwartet. Den Wagen parken wir in einem Parkhaus neben den Überresten des römischen Amphitheaters.
Die Villa d’Este ist unser Ziel – und die entpuppt sich als außerordentlich lohnenswert: Der bischöflich Palast ist reich mit Fresken geschmückt, und kurz fühle ich mich an Mantua erinnert. Der wahre Star sind jedoch die über zig Terrassen angeordneten Gärten mit ihren opulenten Wasserspielen und gigantischen Fontänen! Alles vor Jahrhunderten angelegt; ein nahezu größenwahnsinniges Meisterwerk. Fantastisch.



In den Gassen der Stadt finden wir ein kleines Lokal, das uns gefällt, und wir bestellen Panini. Die junge Kellnerin und der junge Koch scheinen sich zu freuen, dass wir da sind. Touristen. Endlich wieder.
VI. Abruzzen: Lost
Die Abruzzen sind spektakulär schön. Die Straße bringt uns hinauf zu einem lieblichen Hochplateau mit einigen Orten, die mit Wintersport werben. Es ist spät im Sommer, Wintersport wird es in diesem Corona-Jahr keinen geben.
In der Ferne ragen sonnengegerbte Gipfel in die Höhe. Das Bergdorf, in dem wir ein ein Zimmer gebucht haben, lässt mich dann verzweifeln: Die Gassen sind teuflisch eng zum Fahren. Mein Stresslevel schießt hoch gegen Anschlag. Den Ärger bekommt Daniel, meine treue Reisebegleitung, voll und unverdient ab. Schließlich steht das Auto gut vor einer Kirche und unsere Koffer sind in der nett hergerichteten, doch etwas verstaubten Wohnung. Das Haus ist uralt und mit so dicken Mauern, dass wir nur halb eherausgelehnt aus den Fenstern mobiles Netz haben. WLAN gibt es nicht. Der Hausherr strahlt und lässt uns wissen, dass er auch in Bologna eine Wohnung vermiete. Ah, Grazie.
Am nächsten Tag, ein Samstag, wollen wir wandern. So fahren wir weiter in die Höhe, durch die zauberhafte Berglandschaft. Viele der kleinen Orte sind allerdings noch schwer gezeichnet von dem Erdbeben, das vor gut vier Jahren die Region verwüstete. Verlassene Häuserruinen, Baugerüste, Kräne – ein Bild, das zu den mittelalterlichen Dörfern nicht recht passen mag.
Das Auto parken wir in einem dieser romantischen Örtchen, in Santo Stefano di Sessanio, 1.250 Meter über dem gar nicht so weit entfernten Meeresspiegel. Nach nur wenigen Schritten wird uns klar, was uns den ganzen Tag verfolgen wird: Die Wanderwege sind kaum zu erkennen und die Beschilderung oft mehr Hindernis als Hilfe. Die Karten-App zeigt uns optimistisch Pfade wo keine sind. Der Tag wird lang.
Über kahle Bergrücken gehen wir möglichst geradeaus auf eine hoch auf einem Gipfel sitzenden Burgruine zu. Im Hintergrund erheben sich die schroff-kahlen Riesen des Gran Sasso Nationalparks; um uns herum tanzen Schmetterlinge auf ausgedorrten Gras.


An der Burg und im drunterliegenden Dorf tummeln sich Tagesausflügler*innen; wir machen Pause und trinken Limo. Auf dem weiteren „Weg“ kommen Daniel und ich ins Streiten, so schlecht zu erkennen ist der Pfad. Zwei Dickköpfe. Die App sagt: Geradeaus, den Hang hinunter, durch die Büsche. So gehe ich geradeaus, den Hang hinunter, durch die Büsche und Daniel macht kehrt und geht über die Burgruine zurück.
Schnell finde ich zurück ins Tal. Der nun beginnende Feldweg ist herrlich. Fast versteige ich mich in pure Begeisterung über mein Rechthaben. Schon sehe ich über mir die Mauern und Häuser und Türme und Baukräne von Santo Stefano; meine mich fast am Ziel – und zahle schnell mit Schweiß für meinen Hochmut. Der auf der Karten-App eingezeichnete Weg zurück hoch in den Ort ist wieder nicht zu erkennen. In unendlichen Kehren und bei sengender Sonne schleppe ich mich eine staubige Landstraße entlang; immer das Dorf im Blick, doch ihm nicht näher kommend. Anderthalb Stunden kostet mich dieser Umweg.
In Santo Stefano wartet Daniel auf mich – mit einer Flasche herrlich kalten Wassers, das ich begierig austrinke. Was liebe ich diesen Mann in diesem Moment! Erschöpft und ausgelaugt folge ihm wie auf Autopilot durch die Gassen, die nun gut mit Besucher*innen gefüllt sind. An einer kleinen Vinothek holen wir Wein und Sandwiches. Langsam kehre ich auf Betriebstemperatur zurück.
Zurück in die Herberge. Lange Duschen, schlafen. Dann, als es dämmert, gehen wir in die Osteria des Ortes: es erwartet uns ein wahres Fest! Auf einem kleinen Balkon über den uralten Dächern sitzend schlemmen wir uns durch Antipasti, Paste, Dolce und Wein. Eine herzhafte, großartige Bergküche!



VII. In den Marken
Mittlerweile sind wir wieder in Richtung Norden unterwegs. Aus den Abruzzen geht es hinab in die Marken. In der hübschen Kleinstadt Ascoli essen wir in einem Touri-Lokal mittelmäßig zu Mittag. Dann weiter über Landstraßen zu unserem Agriturismo für die nächsten Nächte, wieder ein altes Bauernhaus irgendwo zwischen Feldern. Hier ruhen wir uns aus. Essen im Garten, liegen stundenlang am Pool, genießen den weiten Blick über das Land: Olivenhaine, Felder, noch mehr Bauernhäuser und in jeder Himmelsrichtung mindestens ein romantisch-auf-einem-Bergrücken-liegendes-mittelalterliches Städtchen.
Bei Ankunft in unserem Agriturismo sitzen wir vor dem ausladenden Schreibtisch des Wirts, der wie ein großer Patriarch über sein Reich herrscht. Seine Frau springt. Und der Junge des Hauses übersetzt. Und fragt uns irgendwann nach Wehrmachts-Panzern.

Die Marken verzaubern. Sie wirken auf uns wie die weniger beachtete Schwester der Toskana; vielleicht nicht ganz so lieblich, aber mindestens genauso schön. Die Straße hinunter ist ein kleines Weingut, wo wir bei einer jungen Bäuerin einige Weine verkosten: Aus großen Stahlkanistern füllt sie unsere Gläser – für den Moment entscheiden wir uns für Rosé und Grappa. Am nächsten Tag, als wir unsere Reise fortsetzen, kommen wir für mehr Flaschen nochmal vorbei.
Und so verbringen wir unsere Zeit. Nichtstun. Sonnen. Weintrinken. Dolce Vita. Das Leben ist herrlich.
Auch fahren wir ans nahe Meer, an die Adria. Dort, unweit der Industrie- und Hafenstadt Ancona, finden wir einen schönen Strand mit türkisblauem Wasser, das schnell in tiefblau hinbegleitet. Ein weiter Himmel. Klippen mit harzig-warm duftenden Kiefernwäldern.

Es ist busy. Wir mieten uns zwei der adrett aufgestellten Liegen mit kleinen Sonnenschirmen. Der Tag fließt dahin. Gelegentlich springen wir in das klare, warme Wasser des Meeres. Ein honigsüßes Nichtstun. Als die Schatten allmählich länger werden, da packen wir zusammen und peilen das über uns in den Klippen liegende Örtchen an. Am Marktplatz mit grandiosem Balkonblick über die Adria genießen wir einen Apperitivo. Das Licht wird golden und etwas sticht die Wehmut ins Herz, denn wir wissen, dass wir bereits auf dem Heimweg sind.
VIII. Wo beginnt der Himmel?
Fast zwei Wochen lang ging es vorbei an sanften Hügellandschaften und über teils waghalsige Bergstraßen. Nun ist es bis weit zum Horizont flach. Wir fahren die Küste entlang nach Norden, durch das weitläufige Po Delta.
Bei Comacchio, südlich von Venedig, haben wir einen Bungalow gemietet. Dieser ist nett eingerichtet und vom freundlichen Wirt bekommen wir Mountainbikes geliehen, mit denen wir abends in den nahen Strandort zum Essen fahren. Zum Frühstück sitzen wir am Morgen auf der Terrasse. Hohes Schilfgras trennt uns von der nahen, nach Salz riechenden Lagune. Vögel sitzen in der Ferne auf Stromleitungen; Fliegen rauben einem den Nerv. Im Gebüsch versteckt sich ein psychotischer Fasan, der meint, sich uns gegenüber als Chef aufspielen zu müssen.


Mit den Mountain Bikes radeln wir in die Landschaft der Salinen, wo hier einst in der Lagune Salz gewonnen wurde. Es erstreckt sich eine schwer zu erfassende Weite, viel Nichts. Auf dem viel zu still daliegenden Wasser spiegelt sich grell die Sonne. Wo der Himmel anfängt verschwimmt im diesigen Horizont. Der endlos-scheinende Weg führt uns vorbei an Kanälen, verfallenden Bauten, tausenden von Vögeln – darunter auch Flamingos, die ihre bizarr-langen Hälse in die Höhe strecken.
Der Sattel meines Rades ist unbequem; oder ich bin zu doof, mir die richtige Höhe einzustellen. Der Weg zieht sich. Schnell tun mir Rücken, Beine, der Hintern weh. Das Land drumherum liegt still und fast meditativ ruhig da. Im hübschen Comacchio mit seinen Kanälen halten wir für Getränke.




Wir radeln weiter zum Strand. Dazu müssen wir einmal in einer rostigen Fähre den Hauptkanal überqueren. Der Ort, den wir nun erreichen, wirkt wie ein Überbleibsel eines veralteten Massentourismus mit viel Beton.
Der Strand selbst allerdings ist weißgolden und herrlich breit. Die Saison ist vorbei und fast wähnen wir uns alleine; nur vereinzelt sonnen sich noch Touristen. Die Sonne glänzt, der Wind pfeift, und das warme Wasser ist ewig weit hinaus nur hüfthoch. Eine Badewanne. Unser letzter Urlaubstag. Nochmal fallen lassen. Zur Ruhe kommen. Kraft tanken.
Zwei Wochen waren wir in Italien unterwegs; beinahe nur auf dem Land. Kleine Straßen, Bauernhäuser, viel gutes Essen. Märchenhafte Landschaften. Eine Pause von diesem irren, anstrengenden Jahr 2020.