Ein unfaires Urteil über Warschau

Es ist natürlich nicht fair, nach nur einem halben Tag ein Urteil über eine Stadt zu fällen. Für Warschau bleibt jedoch nicht mehr Zeit. Ein kurzer Zwischenaufenthalt, bevor unsere Reise weitergeht.

Aus den Tiefen des Hauptbahnhofs stolpern wir Vier an die Oberfläche. Parkplätze, Verkehr, Glasfassaden – und mitten drin, schmutzig-weiß, der Kulturpalast. Ein 200-Meter-Turm, verrückt verziert. Aus der kurzen Epoche, als die Sowjets meinten, ein hoch in den Himmel aufragender Zuckerbäcker-Bau könne Warschau verschönern. Der Blick schweift über die benachbarten, modernen Hochhäuser und mir scheint: so unrecht hatten die damals vielleicht nicht…

 

Der Kulturpalast in Warschau

Kronleuchter im Warschauer Kulturpalast

 

Wir stellen uns in die Schlange, um einen Blick von diesem Kulturpalast auf die Stadt darunter zu bekommen. Den Fahrstuhl bedient eine Polin in einer dunkelblauen, schlecht-sitzenden Uniform. Sie sitzt links in der Kabine auf einem abgewetzten Hocker und drückt Knöpfe. Auf und Ab geht es für sie, den ganzen Tag.

Der Besucherbalkon ist stalinistisch-epochal, die Halle schmückt ein Kronleuchter. Ich trete an die Brüstung. Das unter mir ist dann also Warschau: gläserne Wolkenkratzer, sozialistische Straßenzüge, links ein Einkaufszentrum, in dem der Westen Einzug gehalten hat. Mit Rossmann, Carrefour und Marks & Spencer. Schöne neue Welt.

Jenseits der sich durch die Stadt windenden Weichsel liegt wie ein gigantisches UFO das Nationalstadion. Die Häuser der Altstadt wirken daneben wie Spielzeug. Sie sind unser Ziel.

 

Blick über Warschau

 

An diesem halben Tag tun wir das, was so ziemlich alle Warschau-Erstbesucher tun: Wir folgen den Highlights aus dem Reiseführer. Lernen wir so die Stadt kennen?

Die Hauptstraße in Richtung Altstadt ist mit ihren niedrigen alten Häusern hübsch und am heutigen Samstag für den Verkehr gesperrt. Auf dem Bürgersteig stehen die Tische und Stühle zahlloser Straßencafés. Starbucks, Costa Coffee, zig andere Ketten. Es ist sehr lebendig hier, doch das Individuelle tut sich schwer.

 

Straße in Warschaus Altstadt

 

Die Altstadt ist neu. Das meine ich auch so. Nachdem die Deutschen noch kurz vor Kriegsende Warschau zu Brösel schossen, taten die Polen etwas sehr cleveres: Sie bauten große Teile ihrer Altstadt wieder auf. In Westdeutschland folgten die meisten Städte diesem Beispiel bedauerlicherweise nicht…

Für den Wiederaufbau dienten neben vergilbten Fotografien ausgerechnet die Gemälde Canalettos als Vorlage. Was zu einem leicht surrealen Ergebnis führte. Ganz, ganz leicht stimmt an der Altstadt etwas nicht. Doch was ist, vermag ich nicht zu sagen… Die Farben? Die Dimensionen? Die Straßen hier sind voller Touristen, Fußballfans und zig Hochzeitsgesellschaften, die fröhlich aus den zahlreichen Kirchen und Kapellen strömen.

 

Der Hauptplatz in Warschaus Altstadt

Warschaus Altstadt mit Caneletto-Gemälde im Vordergrund

 

Langsam ist uns so, als hätten wir alles gesehen. Was, klar, nicht stimmt. Doch das Gefühl ist da und geht nicht weg… Wir gehen also etwas essen, aus Hunger – und um Zeit rumzubrigen. Wir entscheiden uns für ein Wirtshaus an einem ruhigen Platz in der Altstadt mit englischer Speisekarte. Doch das haben in diesem Viertel fast alle Lokale. Wir bleiben draußen unter einem Schirm sitzen, der uns vor dem gerade einsetzenden, leichten Nieselregen schützt. Ich bestelle polnische Piroggen, gefüllt mit Fleisch, Gemüse, Pilzen, Käse… Gutes Essen macht glücklich. Hier bin ich happy. Dazu trinke ich ein dünnes, polnisches Bier, das mich dennoch leicht beflügelt. Viel gegessen habe ich heute noch nicht.

 

Piroggen

 

Um 19 Uhr wollen wir wieder am Bahnhof sein. Auf dem Rückweg empfiehlt der Reiseführer eine kleine, altehrwürdige Konditorei. Dort gibt’s für uns Krapfen, Torte, Cola und Kaffee. Mit Handzeichen, ein paar Brocken Englisch und viel Lächeln machen wir uns den zwei Damen hinter der Theke verständlich.

Zum Abschluss: Wir stromern durch einen sehr grünen Park, gelangen so zum Parlament. Da steht eine lange Menschenschlange. Es ist Nacht der Museen in Warschau, wie wir erfahren. Doch Zeit dafür bleibt uns nicht. Warschau ist nett, da sind wir uns irgendwie einig.

Ein Bedürfnis, zurückzukehren, verspüren wir hingegen nicht. Das ist schade. Die Stadtteile jenseits des Flusses, die – so überall zu lesen – gerade so im Kommen seien, die sehen wir gar nicht. Auch das Kneipen- und Nachtleben nicht. Und wie die Menschen hier leben? Keine Ahnung.

Es ist nicht fair, wie ich mich von Warschau verabschiede. Die Zeit war zu kurz, ich war zu sehr Tourist. Wir haben abgehakt, was es abzuhaken gab. Ob ich wiederkomme, das glaube ich in dem Moment nicht…

Wir nehmen den Zug zurück zum Airport. Um 22:50 Uhr geht unser Flug nach Tiflis.

 

Um jetzt doch fair zu bleiben: Einen schönen, anderen Eindruck auf Polens Hauptstadt gibt’s bei THE TRAVEL EPISODES

 

6 Kommentare zu „Ein unfaires Urteil über Warschau

  1. Hallo Tobias,
    manchmal ist das so, dass einem einfach nicht genug Zeit bleibt und man leider nur wenige Punkte in einer neuen Stadt sieht. Wenn diese einen dann nicht „umhauen“, hat die Stadt irgendwie schon ein bißchen verloren…. Und trotzdem finde ich, dass man von jedem Trip etwas mitnimmt – egal was es ist…auch wenn es die Erkenntnis ist, dass man evtl. nicht noch einmal dorthin fahren muss. Ich war vor 2 Jahren in Leipzig gewesen und kurz vorher in Dresden…das war ein Fehler gewesen. Die beiden Städte hätte ich umgekehrt besuchen müssen. So konnte ich nach Dresden der Stadt Leipzig nichts abgewinnen und sie hat mir nicht wirklich so gut gefallen. Du siehst, auch so kann man sich sein Urteil über eine Stadt fällen, auch wenn es nicht fair ist. Insgesamt kommt mir aber Warschau sehr bunt und lebendig vor und nicht langweilig. Vielleicht siehst du das in der Zukunft anders und wirst Warschau noch einmal einen Besuch abstatten :-)
    Viele Grüße
    Iris

  2. Hallo Iris,

    Danke für deinen Kommentar!
    Ich möchte es auch wirklich nicht bereuen, in Warschau gewesen zu sein. Eher bedaure ich ja, dass der Stadt wirklich nicht gerecht werden konnte – und nicht mehr als mittelmäßiger Enthusiasmus dafür rüberkam. Vielleicht tat auch das graue Wetter sein übriges. Üble Kombi halt. :)

    Kleine Vorschau: mein nächster Halt konnte mich dafür umso mehr begeistern. ;) ;)

    Und was Leipzig angeht, da kann ich dir wiederum nur empfehlen, dieser Stadt nochmal eine Chance zu geben.

    Grüße aus München,
    Tobias

  3. Hmm, wenn es danach geht, dass man früh in einer neuen Stadt etwas essen geht, dann hatte ich in jeder tschechischen Stadt schon innerhalb kürzester Zeit alles gesehen. :D ;)

    Mich würde Warschau sehr reizen, gerade nach dem, was du erzählst über den Wiederaufbau. Das war mir neu – aber macht mich neugieriger auf Warschau.

  4. Jip, die Warschauer Altstadt ist im Grunde ein großer Fake, denn sie ist komplett neu wieder aufgebaut worden. Sollte es Dich doch noch einmal dorthin verschlagen, so schau dir den Lazienki-Park an:

    Am schönsten ist der Park gen Herbst, wenn dir die zahmen Eichhörnchen die Nüsse aus der Hand stibitzen ;-)

    http://stefan-taege.de/kasia/2016/11/23/lazienki/#more-3680

    Interessant ist auch das kleine, finnische Dorf Jazdow, mitten im Warschauer Zentrum im Parlamentsviertel gelegen. Die original finnischen Häuschen sind nach dem Krieg ein Geschenk Finnlands an Polen gewesen und waren den Menschen ein Zuhause, die die Stadt damals wieder aufgebaut hatten…

    http://stefan-taege.de/kasia/2016/12/01/kleines-finnisches-dorf-mitten-in-warschau-jazdow/#more-3731

    Liebe Grüße
    Kasia

    1. Hallo Kasia,
      danke für die Tipps! Ich weiß, dass ich in Warschau viel zu kurz war… möchte der Stadt irgendwann eine zweite Chance geben, da komme ich gerne auf deine Vorschläge zurück! :D

      1. Das freut mich! Die Stadt ist zwar keine Schönheit an sich, hat aber einige interessante Ecken zu entdecken. Und bitte nicht mehr direkt in der Altstadt essen gehen, da ist es viel zu teuer. Überall sonst ist das Essen in Warschau günstig und sehr lecker ;-)

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