Zeit im Zug (Slow Travel, Teil 2)

Zeit. Die nehme ich mir jetzt. Der Blick schweift aus dem Zugfenster. Auf dem Platz neben mir liegen zwei, drei Bücher. Zur Unterhaltung auf der langen Reise. Ich werde sie nicht zur Hand nehmen.

Stattdessen ziehen an mir vorbei: sonnenverwöhnte Städte und Dörfer in Südfrankreich, weite Wälder in Nordamerika, Bergtäler in Japan mit schneebedeckten Gipfeln, glitzernden Wasserfällen und dazwischen immer wieder Reisfelder. Ich staune. Auf jeder Bahnfahrt. Ich beobachte, wie sich das Land verändert. Bin gefesselt von dem, was da geschieht. Felder, Wälder, Berge, das Meer… Alles hängt zusammen, organisch. Grenzen bleiben bloß Illusion.

Alleine bleibe ich nicht. Auf dem Weg durch die betäubenden Ebenen Norddeutschlands, findet mein Auge nur schwer Halt an einem endlosen Horizont. Dabei lausche ich dem berlinerischen Geschnatter einer fröhlichen Damengruppe. Daneben sitzt ein hübsches Mädchen, ihre zarten Füße in Schnürsandeln. Sie hat sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt, lauscht Musik, nehme ich an, und schaut dabei aus dem Fenster.

In Frankreich begrüßen mich die Fahrkartenkontrolleure höflich mit „Votre billet, Monsieur. Merci“. Im Shinkansen geht die zierliche japanische Zugbegleiterin einmal durch die Reihen. Am Wagenende dreht sie sich zu uns Reisenden noch einmal um, verbeugt sich vor uns respektvoll, und betritt den folgenden Wagon.

Auf dem Weg nach Montreal komme ich mit einer New Yorkerin ins Gespräch. Wir unterhalten uns stundenlang, machen Witze, flirtet sie mit mir? Der Gedanke kommt mir erst Tage später… Auf Facebook bleiben wir befreundet. Mittlerweile lebt sie in Los Angeles.

 

Kostet diese Art des Reisens Zeit?
Nein. Sie gibt sie mir, fühle ich. 

 

Mein Traum: Einmal quer diese gewaltige Landmasse mit der Bahn bereisen – in München in den Zug einsteigen, irgendwann in Hongkong, Schanghai, Bangkok aussteigen… Das Land mitnehmen. Die Weite erkennen.
Irgendwann.

 

Das Thema Slow Travel von 1ThingToDo hat mich so fasziniert, dass ich mir erlaubte, gleich zwei Mal Gedanken hierzu in Worte zu fassen. Ich hoffe, John und Marc sehen mir diese kleine Frechheit nach. :)

 

 

9 Kommentare zu „Zeit im Zug (Slow Travel, Teil 2)

  1. Also, an sich fahre ich seeeehr gerne Zug. Auch wenn es „nur“ nach Hause geht, weckt das Sehnsucht und Fernweh in mir. Durch wieviele Orte, Landschaften, Städte fahre ich und denke: „Irgendwann steige ich hier mal aus und seh mir das an!“
    Wenn ich durch Florenz fahre, verrenke ich mir immer den Hals, um auch ja einen Blick auf den Duomo zu erhaschen. Fahre ich nach Wien und komme durch Passau, dann geht direkt bei der Stadtausfahrt Passau mein Blick nach links, denn genau an dieser Stelle hat man den schönsten Blick auf die Passauer Altstadt, den man haben kann.

    Und wenn ich durch Landschaften fahre, dann verfolge ich mit Blicken all die Wege, die sich neben den Schienen entlangziehen und überlege, ob man da wohl schön eine Radtour machen könnte. Sabine und ich haben mal festgestellt, dass wir immer beim Zugfahren an einander denken müssen, weil wir uns vorstellen, auf den Wegen, die man aus dem Zug sieht, mit dem Rad unterwegs zu sein.

    Lieber fahre ich sechs Stunden mit dem Zug, als eine Stunde zu fliegen – wenn man An- und Abfahrt dazuzählt, das warten, das einchecken, die Sicherheitskontrolle, dann ist man eh auch bei knapp fünf Stunden. Nur dass ich da nie Zeit finde zum durchatmen. Anders als beim Zug (zumindest, wenn ich nicht ständig umsteigen muss ;) ) – einsteigen, hinsetzen, häuslich einrichten und dann abschalten.

    Eine wirkliche Zugreise würde ich persönlich aber doch nicht machen wollen. Ab einer gewissen Zeit gehts mir dann doch auf den Nerv. Die Zugfahrt von Neapel zurück war schon grenzwertig. Die Vorstellung mit der Transsib zu fahren, macht mich schon kirre.

    Schöne Reihe, bin gespannt, was noch so kommt ;)

    1. Das war jetzt schon halber, sehr schöner Blog-Beitrag von dir. :)
      Danke!

      …und klar, irgendwann kann man auf einer langen Zug-Reise auch wahnsinnig werden. Doch, mhm, gehört das nicht zum Ankommen irgendwie dazu? Darf eine Reise so leicht sein?
      …das wäre jetzt auch mal ein spannender Gedanke, den ich hier an dieser Stelle ausformulieren könnte. ;)

      1. bis sechs Stunden finde ich alles in Ordnung. Was darüber hinausgeht wird mühsam. Ab 10 Stunden kotzt es mich nur noch an. Jeder Philosophiererei zum Trotz ;)

  2. Hi Tobias,
    du beschreibst deine Eindrücke sehr lebendig. Es scheint, als wäre man hautnah dabei.
    Ich fahre gern und lange Zug. An Dreh- und Wendepunkten wie Bahnhöfen oder auch Flughäfen beobachte ich gerne andere Reisende. Es gibt traurige und frohsinnig gestimmte Menschen. Haben sie grad Abschied genommen? Wo kommen sie wohl her? Wo reisen sie hin? Was bewegt sie dazu? Irre interessant!
    Liebe Grüße,
    Stefanie

    1. Da bin ich voll bei dir – Menschen zu beobachten, ihre Geschichten zusammenzusetzen (und nur für mich im Kopf – und da kommt die Frage: was ist real? Ist nicht dass, was ich mir vorstelle, auch wirklich?), gemeinsam mit diesen Fremden auch zu reisen… Ja, wirkliche irre interessant. :)

      Danke dir + hab ein schönes, sonniges Feiertagswochenende!

  3. So ein schöner Beitrag :-)! Ich fahre auch sehr gern mit dem Zug, lasse die Landschaft an mir vorbei ziehen und vertiefe mich in ein Buch. Nur die Nachtfahrt in Indien fand ich nicht so großartig (und vor allem nicht Schlaf fördernd), aber das ist eher die Ausnahme.

  4. Schön, wie du beschreibst, was dir auffällt, was ist. Diese Wahrnehmung der Landschaft, des Verhaltens einer Zugbegleiterin, … das bewußte Reflektieren, das Würdigen dessen was ist, was wir auf Reisen erleben, möglichst ohne Wertung, das ist für mich/uns Slow Travel. Wir bezeichnen das aber lieber als Achtsames Reisen.
    LG WoMolix

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