Wenn ich überaus nervös werde, dann beginnt mein rechtes Bein unwillkürlich zu zucken. Mein Kopf ist klar, doch das Bein macht sich selbständig. Ich möchte es festhalten. Aber das geht schlecht. Denn in den Händen halte ich ein Mikrofon. Zusammen mit einer jungen Deutschen stehe ich vor einer Karaoke-Maschine. Wir singen „Don’t Go Breaking My Heart“. Der Duet-Klassiker, der irgendwann mal von Elton John war, bevor das Stück von miesen Keyboards für Karaoke-DVDs eingespielt wurde. Wir singen übrigens äußerst schlecht. Vielleicht zuckt daher mein Bein.
Es ist mein erster Abend in Lappland, weit jenseits des Polarkreises. Große Teile Grönlands liegen weiter südlich als dieser Ort, an dem ich nun bin. Draußen ist tiefster Winter und schon seit 14 Uhr Nacht. An unser kleines Hotel ist die Dorfkneipe angeschlossen, ein eigentlich gemütliches Pub, in dem sich Freitagabends vor allem Einheimische tummeln. Touristen fallen hier auf. Wie die kleine Gruppe Schweizer am Nebentisch. Und wir.
Das Lied geht zu Ende und der DJ erlöst uns. Nun singt er. Und das recht gut. Wenn auch nur mit geschlossenen Augen. Viele der Lappen sind sternhagelvoll. Vor allem die Männer. Einer fliegt über einen Tisch, an dem oben genannte Schweizer sitzen. Der Rausschmeißer taucht auf. Er ist ein blonder Bube von wohl knapp 18 Jahren. Für mich, der aus einem Land kommt, in dem Rausschmeißer klischeehaft aus ihren T-Shirts und schwarzen Lederjacken platzen, eine Überraschung. Der Junge ist jedoch verflixt gut in dem, was er tut, und der Tischflieger fliegt raus. Dort steigt er auf ein Fahrrad und macht sich in weiten Schlangenlinien – so kann man vermuten – über die verschneite Hauptstraße auf den Heimweg.
Nachmittags sind wir angekommen. Auf einem Flughafen, dessen Terminal kleiner ist als der Rewe, in dem ich einkaufe. Finnisch Lappland ist in Schnee getaucht. Schnee. Schnee. Und noch mehr Schnee. So viel Schnee, dass unser erster Stopp nach dem Flughafen ein Hotel aus Schnee ist. In hohen Bergen der weißen Pracht befinden sich Hallen, in denen Tische und Bänke aus Eis stehen. Dieses stammt aus dem nahen Fluss. Manchmal ist ein eingefrorenes Blatt oder ein Zweig zu sehen.
Der Bau ist betörend. Ich glaube den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren. Blaues Licht erhellt matt die Gänge. Die Zimmer in diesem Labyrinth aus Schnee warten mit einem Bettkasten aus noch mehr Eis auf. Gäste schlafen in Schlafsäcken, die einen bis zu -30° warm halten sollen. Ich bin nicht versucht dies auf die Probe zu stellen. Jedes Zimmer ist einzigartig. Reliefs schmücken die weißen Wände. Eines zeigt eine Bärenfamilie. Ein anderes Fische und Seelöwen, aus deren Augen Lichter blitzen. Ein anderes ist mit Sternbildern geschmückt und in einem anderen wacht ein mächtiger Adler über die Schlafenden. Mir gefällt das Zimmer am besten, in dem ein nordischer Wald in den Schnee gemeißelt wurde – und darüber stellt eine Installation aus mehrfarbigen LEDs und Eis die Aurora Borealis dar, das Nordlicht.
Die Tour endet in der Hotelbar. Der Tresen ist selbstverständlich ebenfalls aus Eis. Sowie Statuen. Und die Gläser. Uns wird Cranberry-Wodka eingeschenkt. Der Barkeeper, der auch wieder aus der Schweiz kommt, hält uns in seinem eidgenössischen Tonfall dazu an, möglichst schnell zu trinken. Sonst würde das Gesöff das Glas zum schmelzen bringen. Ich stürze den Wodka hinunter und eine wohlig süße Wärme strömt von meinem Magen in alle Glieder. Das Glas schmeiße ich auf den Boden. Es zerspringt. Dies soll Glück bringen. Für meinen Karaoke-Auftritt später hat es nicht gereicht.
2009 hatte ich immer wieder beruflich in Finnland zu tun. Ein großartiges Land. Diese Eindrücke und dieser Text entstanden zu jener Zeit.