“Where are you from?” Die hiesige Standardfrage. Ein kleiner, drahtiger Mann im weißen Hemd steht neben mir. Er muss mir nun erzählen, sein Vater habe in Deutschland gearbeitet. Ganz stolz nennt er seinen eigenen Beruf auf Deutsch: “Schneider!”
In nur zwei Stunden könne er mir ein neues Hemd schneidern. Fast bin ich versucht, ja zu sagen, doch möchte ich doch durch die mir so fremde Stadt streifen. Mit “Später” versuche ich ihn abzuwimmeln. Natürlich laufe ich ihm “später” noch einmal über den Weg. Unter tausenden von Menschen. “Tomorrow,” sag ich dieses Mal zu ihm. Wohlwissend, dass ich morgen schon im indischen Hochland sein werde. Ich kann hier nicht immer freundlich und ehrlich sein. Es sind einfach zu viele. Eine Woche später, in Mysore, da soll ich noch beschämenderweise die Geduld verlieren und einen Souvenirverkäufer laut und deutlich anblöken. Auf Deutsch. Kein Höhepunkt meiner interkulturellen Kompetenz…
Heute bin ich allerdings in Madurai, tief im Süden Indiens. Die Hitze hängt nicht ganz so schlimm über dieser kleinen Stadt. Der Lärm ist ein anderer als in den Tagen zuvor. Verkehr, Bauarbeiter, Hupen. Staub liegt in der Luft.
Die Straßen sind voller kleiner Läden. Auf dem Boden kauernd verkaufen Frauen gegrillte Maiskolben und Kokosnüsse. Daneben fressen klapperdürre Kühe die Reste.
Hoch über die wirr zusammengewürfelten Häuser, dem wilden Verkehr und einem Gestrüpp aus Kabeln über unseren Köpfen erhebt sich ein Wunderwerk: vier gewaltige Tortürme, ein jeder in eine Himmelsrichtung blickend. Die Türme sind über und über mit tausenden bunter Statuen geschmückt. Figuren aus der reichen indischen Mythologie.
Sie bilden die Eingänge zu einem weitläufigen Tempel.
Im Inneren ist es dunkel, die Luft erscheint mir feuchter. Zwischen hohen Säulen stehen die Stände von Tempelhändlern. Eine Bibelstelle kommt mir in den Sinn, dabei bin ich gar nicht religiös…
Der Tempel ist voller Menschen. In den weiten Hallen sehen wir Pilger, Betende, aber auch Familien die auf dem Steinboden sitzen und picknicken.
Der ganze, weitläufige Komplex ist reich verziert, ich bin ehrlich beeindruckt. Dabei dürfen wir nicht alles sehen. Vor dem Zugang zum Allerheiligsten steht ein weißes Schild: “Hindus Only”.
Es ist eine andere, prickelnde Welt. Es wimmelt von Menschen und unzähligen Gottheiten.
Wieder draußen zieht eine Prozession an uns vorbei. Priester und ein bunt angemalter Elefant.
Vor einem kleinen Ganesha-Schrein, dem so beliebten Elefantenköpfigen Gott, sammeln sich hunderte und beten inbrünstig. Frauen legen ihre Neugeboren vor dem Schrein auf den Boden. Erwarten sie einen Segen? Glück?
Immer wieder und vielleicht für mich zum wirklich ersten Mal werde ich in Indien mit “fremd sein” konfrontiert. Mir ist die Religion fremd, die Menschen sind mir fremd, die Gerüche, das Elend, der Lärm, wie dieses Land funktioniert.
Und: ich bin fremd. Überall falle ich auf. Bin mindestens ein bis zwei Köpfe Größe als alle anderen.
Dann da: zwei Weiße! Ein Mann und eine Frau! Wir sehen sie deutlich über eine ganze Menschenmenge hinweg.
Wir reden nicht miteinander, doch im Fremdsein sind wir irgendwie vereint, denke ich mir.
–November 2011–
Zu Indien, Teil 1: Ankommen
Zu Indien, Teil 2: Und der Regen fiel
Zu Indien, Teil 3: Mit Bus nach Süden
Zu Indien, Teil 4: An der Spitze
Zu Indien, Teil 5: Der Tuk-Tuk Fahrer am Wasserfall
4 Kommentare zu „Indien: fremd in der Tempel-Welt von Madurai“