Regenwasser fließt die Zimmerwände herab. Erst an der Wand zur Küche. Dann an der Wand zur Eingangstür. Dann an allen Wänden. Da entscheiden wir uns, die Sicherung rauszunehmen.
Draußen rauscht mit einem mir vorher nie so bewussten Getöse die Brandung. Und der Regen, den hört man auch. Sonst ist es stockdunkel. Ein paar Kerzen stehen auf unserem Tisch. Um sie herum unser Abendessen: Chips, Bananen und süßes Gebäck aus einer nahen Bäckerei.
Wir sind in einer Strandhütte direkt am Meer untergekommen. Betten gibt es genug für 8. Wir teilen sie uns zu zweit. Schlicht und einfach ist es hier. Und angesichts des vermutlich regelmäßig hereinbrechenden Wasserschadens, den wir an diesem Abend fasziniert beobachten, war der Bau wohl auch mit einer gewissen Entspanntheit angegangen worden.
In diesem einen Moment – draußen wütet der letzte Monsun der Saison, drinnen werden wir ebenso nass – hätte ich nicht viel zufriedener sein können.
Lars und mich hatte es nach Kollam verschlagen; im Süden des Bundesstaates Kerala.
In der Touristeninformation am Busbahnhof, der mit den tiefroten Flaggen der lokalen kommunistischen Partei geschmückt war, hatte man uns diese Hütte am Meer vermittelt.
Der junge Boy der Wirtsfamilie – ein kleines Bürschlein mit dem in Indien so weit verbreiteten, unpassenden Oberlippenbart – richtete die Betten her, während der Sohn des Wirts uns Bier und frischgefangenes Seafood anbot. Freundlich lehnten wir ab.
In der Stadt essen wir in der Nähe des Bahnhofs in etwas, was wir zu Hause wohl Arbeiterkneipe nennen könnten. Den fast entsetzten Blicken der übrigen Gäste und der nervösen Gestik des Kellners nach zu urteilen, sind Bleichgesichter wie wir Beide ein eher seltener Anblick.
Daran sollten wir uns noch gewöhnen… Mit Händen und Bruchstücken von Englisch bestellen wir. Auf einem meiner nicht näher zu definierenden Kringel kriechen emsige Ameisen. Ich lache still.
Doch die Gäste am Nachbartisch machen den Kellner drauf aufmerksam. Der sich dann zutiefst entschuldigt (nehme ich an). Und frische Kringel bringt. Bereut habe ich das nicht.
Wir gehen durch die Gassen der Stadt. Als es anfängt, an diesem ersten Abend zu regnen, da setzen wir uns unter ein Vordach und reden. Wie es Zwei tun, die sich noch nicht kennen, denen das aber verblüffenderweise nichts ausmacht. Schräg gegenüber von uns blitzen goldene Statuen aus einem kleinen Hindu-Tempel hervor.
Der folgende Morgen ist wieder sonnig und wir treten unser Touristenprogramm an: gemeinsam mit einem Italiener, einem spanischen Pärchen, einem indischen Pärchen, einem verschwiegenen alleinreisenden wie sehr blonden Skandinavier und 3 jungen Typen, von denen man nur sagen kann, sie kamen unglücklicherweise aus Deutschland, sitzen wir in einem Bus. Ziel sind die Backwaters von Kerala, einer unübersichtliche Reihe an Seen, Flüssen, Lagunen und Kanälen, welche sich die ganze Küste des Staates entlangziehen. Spreewald in den Tropen.
Von einer kleinen Anlegestelle aus geht es in einem Kahn über verschlungene Wasserwege. Vorbei an kleinen Häusern, vor denen Hühner gackerten. Manchmal vorbei an einem Geschäft, vor dem ein hemdloser alter Mann zeitungslesend sitzt. Da: ein Tempel. Weiter vorbei an mit Netzen bedeckten Teichen, in denen Shrimps gezüchtet werden. Viel Grün. Viel Wasser. Gelegentlich eine Kuh.
Zurück in Kollam, verirren wir uns. Wir finden und plötzlich in einem der Armenviertel der Stadt wieder. Für die Kinder sind wir die große Attraktion. Für die Erwachsenen wohl auch. Alle zwei Meter werden wir nach unseren Namen gefragt. Und woher wir denn kommen. Ob wir Kerala denn mögen. Und ob wir nicht ein Foto von ihnen schießen wollen.
Wir kommen zu einem Leuchtturm, der von einem nett gepflegten Garten umgeben ist. Es ist spät, und der Turm würde in 10 Minuten für Besucher schließen heißt es. Meine Begeisterung, diesen noch zu besteigen, ist gering. Doch hatte sich da um uns ein Tross von gut einem Dutzend Jungen und Mädchen gebildet, die uns bedrängen doch hochzugehen. Und, als sie uns schließlich soweit haben, zahlen sie ebenfalls an der Kasse ein paar Rupien und folgen uns begeistert.
Unten am Hafen spielen Kinder sowas wie Fußball. Daneben sitzen alte Frauen und Männer. In einer Straße entdecken wir eine hell erleuchtete Kirche. Einige Männer arbeiten an einer Baustelle daneben. Wir fragen, ob wir denn das ein oder andere Foto schießen dürfen. Man antwortet uns mit ehrlicher Begeisterung.
Ein vielleicht 10-jähriger Junge führt uns mit feinem, geschliffenem Englisch durch das Gotteshaus. Ein alter Mann, wohl einer der führenden Männer der Gemeinde, zeigt uns noch, was sich unter den Planen der Baustelle verbirgt: ein gut sechs Meter hohes, schneeweißes Standbild, welches die heilige Maria zeigt, die den toten Leib Jesu‘ in ihren Armen hält. Die Gesichter der beiden sind noch verdeckt. Doch, so sagt der Mann mit viel Stolz in seiner Stimme, am kommenden Sonntag werde das Standbild feierlich geweiht. Zum 100-jährigen Bestehen der Kirche. Sogar der Bischoff würde kommen. Und wir doch gerne auch.
Wissend, dass wir zu dieser Gelegenheit schon hunderte Kilometer entfernt sind, und mit einer fast peinlichen Höflichkeit, die wir säkularisierten Europäer in Kirchendingen an den Tag legen können, antworten wir mit: wir schauen mal …
An unserer Hütte hatten wir uns mit dem Wirt verabredet. Am nächsten Morgen wollen wir in der Frühe weiterreisen, daher wollen wir schon jetzt unsere Rechnung bezahlen. Umgerechnet gerade 15 Euro für unsere große Hütte. Direkt am Meer.
Der Wirt hatte uns noch Bier mitgebracht.
Als es dann anfingt, leicht zu regnen, denken wir uns nicht viel. Ich schreib in mein Notizbuch, Lars sitzt an dem Laptop, den er mitgebracht hatte; die bruchstückhafte mobile Internetverbindung verfluchend. Es beginnt über meinem Bett zu tropfen, dann die Wände hinunterzulaufen.
Und schließlich stehen wir Beide, nass und nur im schwachen Licht der Kerzen, an der Tür unserer Hütte und blicken hinaus in den nachtschwarzen Regen, das Rauschen der Brandung in unseren Ohren.
–November 2011–
8 Kommentare zu „Indien: Und der Regen fiel“